Versorgungsforschung
09.03.2017
Diskussionen über die Reform des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleiches haben durch ein Interview des TK-Vorstandes Jens Baas mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung an Dynamik gewonnen.
Der wissenschaftliche Beirat des Bundesversicherungsamts (BVA) überprüft 2017 zum ersten Mal seit sechs Jahren nicht, ob die Auswahl der 80 Krankheiten für den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) und der damit angestrebten Umverteilung noch adäquat ist. In diesem Jahr wurde die Prüfung aus einem wichtigen Grund ausgesetzt, denn das Bundesgesundheitsministerium hat den wissenschaftlichen Beirat aufgrund der Morbi-RSA Diskussionen im Jahr 2016 damit beauftragt, die Wirkung des Finanzausgleichs eigens in einem Sondergutachten zu evaluieren. In diesem Gutachten, das bis 30. September 2017 erarbeitet wird, wird nun sogar überprüft, ob die Begrenzung des Morbi-RSA auf 80 Krankheiten aufgehoben werden kann.
Der Morbi-RSA sieht vor, dass Diagnosen im ambulanten Bereich (ICD-10-Schlüssel), im stationären Bereich (ICD-10-Schlüssel) und Arzneimittel (Daily Defined Doses, DDD) für die Zuordnung zu einer sogenannten hierarchisierten Morbiditätsgruppe (HMG) berücksichtigt werden. Diese HMG wiederum spiegeln die Pauschalen wider, die die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfonds erhalten. Sie stellen de facto deren Einnahme dar. Eine Krankenkasse hat daher ein großes Interesse daran, dass behandlungsbedürftige Patienten auch als solche im System gekennzeichnet werden. Andernfalls hat die jeweilige Krankenkasse für diese Patienten zwar reale Behandlungskosten zu tragen, erhält aber keine Einnahmen aus dem Gesundheitsfonds. Es liegt daher in der ökonomischen Rationalität einer jeden Krankenkasse dafür Sorge zu tragen, dass die Qualität der Diagnosen mit den tatsächlichen Verhältnissen übereinstimmt. Ein right-coding bedeutet demnach schlichtweg eine korrekt wiedergegebene Krankheitsbeschreibung im Sinne der medizinischen Dokumentation. Die Diskussionen und das mediale Echo im Jahr 2016 berücksichtigten dieses rationale Verhalten der Krankenkassen wenig und fokussierten ausnahmslos auf mögliche Betrugsfälle.
Wir haben daher mit einer Untersuchung frei verfügbarer Daten des Instituts des Bewertungsausschusses (InBA) untersucht, ob es empirische Belege für diese in den Medien geäußerten Annahmen gibt. Dabei haben wir untersucht, ob die in Selektivverträgen im Vergleich zum Kollektivvertrag zusätzlich kodierten Diagnosen bei psychischen Erkrankungen als right-coding zu werten sind. Für den Vergleich der Kodierung zwischen Selektiv- und Kollektivvertrag haben wir die Steigerungsraten der ambulanten F-Diagnosen (psychische Störungen) vom Jahr 2011 zum Jahr 2012 betrachtet. Zur Erklärung der gefundenen Unterschiede der Steigerungsraten diente eine multivariate Regressionsanalyse, wobei die Veränderung der Alters- und Geschlechtsverteilung als unabhängige Variable zur Erklärung der Steigerungsrate in die Analyse einging. Für eine Einordnung der Ergebnisse wurde die Entwicklung der Arbeitsunfähigkeitszeiten (AU-Zeiten) bei psychischen Störungen im selben Zeitraum untersucht. Anschließend erfolgte ein Vergleich der auf Bundeslandebene mit der Versichertenanzahl gewichteten Mittelwerte der ambulanten Steigerungsraten, getrennt nach Selektiv- und Kollektivvertrag, mit den Steigerungsraten der AU-Fälle. Im Ergebnis kann so gezeigt werden, dass die Steigerungsraten der F-Diagnosen im Selektivvertrag höher ausfallen, als die Steigerungsraten im Kollektivvertrag. Dieses Ergebnis ist nicht durch Unterschiede in der Alters- und Geschlechts-Zusammensetzung zu erklären. Die Steigerung der AU-Zeiten bleibt hinter der Steigerung der Diagnosekodierung in Selektivverträgen zurück, was Kritiker tendenziell als ein up-coding werten könnten.
Jedes Gesundheitssystem kennt ein Ausgleichssystem zwischen Gesunden und Kranken. Im einfachsten Fall wird dieses durch risikoäquivalente Prämien umgesetzt. Die meisten europäischen Länder verwenden dagegen Ausgleichssysteme analog dem deutschen Morbi-RSA, also eine Umverteilung im Nachhinein. Wenn man sich die Ergebnisse der Nachbarländer wie bspw. der Schweiz anschaut, lässt sich festhalten, dass deren Morbi-RSA mit weniger Variablen auskommt, ohne eine wesentliche Verschlechterung der Modellgüte in der Umverteilung. Hieraus ließe sich zum Beispiel ableiten, dass ein künftiger Morbi-RSA auch in Deutschland ohne ambulante Diagnosen auskommen könnte. Im Umkehrschluss gilt: Je mehr Variablen in ein Ausgleichssystem einfließen, desto anfälliger wird dieses auch für Einflussnahmen und Manipulationen.
Diese Frage kann mit öffentlich verfügbaren Daten nicht beantwortet werden, aber unsere Ergebnisse deuten zumindest auf ein mögliches up-coding und damit „kränker Machen“ bei den genannten Indikationen in Selektivverträgen hin. Die Krankenkassen verhalten sich betriebswirtschaftlich-ökonomisch dennoch vollkommen rational, wenn sie ihre Einnahmen zu sichern versuchen und hierfür auf die schlechte Dokumentationsqualität im ambulanten Sektor hinweisen. Dass dieses System aus volkswirtschaftlicher Sicht jedoch ineffizient sein kann, liegt ebenso auf der Hand. Die Gesundheitspolitik täte daher gut daran, die Einführung verbindlicher ambulanter Kodierrichtlinien für den Kollektivvertrag abzuleiten oder, wie oben dargestellt, ambulante Diagnosen aus dem Morbi-RSA herauszulösen.
Haben Sie sich mal gefragt warum Krankenkassen laut Herrn Baas "seit 2014 eine Milliarde Euro" (FAZ vom 09.10.2016) für die Einnahmesicherung ausgegeben haben? Die Antwort ist so trivial wie kontrovers. Sie tun dies, weil es betriebswirtschaftlich sinnvoll ist. Krankenkassen können nur mit einem enormen Aufwand einen Bruchteil der Kostensituation beeinflussen, da ein Großteil (über 90% des Budgets) des Geldes prospektiv weitergereicht wird bspw. an Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenhäuser ohne Einflussnahme einer einzelnen Kasse. Zudem unterliegen Einsparungen immer der Annahme, dass diese ohne Zutun ausgeblieben wären. Neue Entwicklungen der Medizintechnik kommen zudem als Produktinnovationen oft zu einem höheren Preis auf den Markt, als der aktuelle Goldstandard, sodass Krankenkassen per se kritisch sind. Ökonomische Vorteile neuer Produkte müssen daher die Perspektive der Krankenkassen adressieren. Genau solche Vorteile können auch Einnahmen der Krankenkassen darstellen. Stellen Sie sich bspw. ein Depotpräparat vor, dass direkt die im Morbi-RSA geforderten 183 DDD absichert oder eine Insulinpumpe, deren Anwendung Morbi-RSA-konform kodiert werden muss. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen, wo die Medizintechnik allein durch deren Beschaffenheit dazu beiträgt, den Kassen die Zuschläge zu sichern ohne, dass diese wiederum auf die Kodierung hinweisen müssen - und das alles rechtskonform.
Am Ende des Tages können Krankenkassen nur umverteilen, was sie vorher vom Gesundheitsfonds erhalten haben. Sie können durch pragmatische Maßnahmen, die selbstverständlich für alle Parteien auch rechtskonform sind, Ihr Produkt deutlich attraktiver für Krankenkassen machen. Sprechen Sie uns an, wir stellen Ihnen Ihre Optionen, die Sie bspw. mit Patient Assistance Programs und Case Management Programmen haben, an Beispielen dar.
Tobias Vogelmann hat am 09.03.17 bei der DGGÖ zu dem hier beschriebenen Thema am Beispiel psychischer Erkrankungen einen Vortrag gehalten – fordern Sie die Vortragsunterlagen kostenfrei hier an.
Sprechen Sie uns an – wir zeigen Ihnen an Beispielen und unserer praktischen Erfahrungen welche Argumente Sie gegenüber den Krankenkassen haben, wenn Sie die Einnahmeseite in Ihre Argumentation einbeziehen. Wir freuen uns auf den Austausch mit Ihnen.
Weitere Informationen finden Sie hier.